Speech: Ein neuer Start für Europa - Die Herausforderungen an die Neue Kommission

Erster Vizepräsident Frans Timmermans

Konferenz "Investitionen, Wachstum und Beschäftigung - unser Weg zu einem starken Europa" im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

[Sehr geehrter Herr Vizekanzler], Sehr geehrte Damen und Herren!

Die neue Europäische Kommission, die ihr Mandat im letzten November angetreten hat, sieht sich vor Herausforderungen gestellt, wie Sie in dieser Form noch keine Kommission davor zu bewältigen hatte. Die Europäische Union hat in den letzten Jahren die schwerste Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen erlebt. Zugleich stellen wir in vielen Mitgliedstaaten eine wachsende Entfremdung zwischen der Union und ihren Bürgern fest. Das wohl deutlichste Zeichen dafür ist der Aufstieg europaskeptischer und europafeindlicher Bewegungen auf nationaler und europäischer Ebene. Auf diese wirtschaftliche und legitimatorische Krise müssen wir eine Antwort finden, wenn wir gemeinsam unseren Weg zu einem starken Europa weitergehen wollen.

Ich glaube, dass sich die neue Kommission diesen Herausforderungen vom ersten Tag an gestellt hat, und dass sie alle Voraussetzungen hat, die Aufgaben zu meistern. Die neue Kommission ist wie keine andere zuvor politisch legitimiert, und sie wird politisch geführt. Sie hat sich zudem eine neue Struktur gegeben, die mehr Kohärenz und Effizienz in unserem politischen Handeln ermöglicht.

Auf der Grundlage der politischen Leitlinien von Präsident Juncker hat die Kommission sich von Beginn an zum zentralen Ziel gesetzt, das Vertrauen der Bürger wiederherzustellen. Dies erfordert einen grundsätzlich neuen Ansatz für die Kommission, die sich wieder auf das Wesentliche, nämlich die Kernanliegen ihrer Bürger konzentrieren muss. Dies bedeutet, dass die Union zukünftig nur noch dort handelt, wo ihre Handeln unverzichtbar ist, und nicht überall dort, wo es vielleicht wünschenswert ist. Als Erster Vizepräsident mit Zuständigkeit für bessere Rechtsetzung und interinstitutionelle Beziehungen ist es gerade für mich eine zentrale Aufgabe, diesen Kulturwandel innerhalb der Kommission voranzutreiben.

Ein erstes Ergebnis dieses neuen Ansatzes ist das Arbeitsprogramm der Kommission für 2015. Auf der Grundlage der politischen Leitlinien und der darin enthaltenen 10 Prioritäten identifiziert das Arbeitsprogramm eine begrenzte Anzahl von 23 konkreten neuen Initiativen, auf die sich das Handeln der Kommission im nächsten Jahr konzentrieren wird.

Die ersten Initiativen hat die Kommission bereits auf den Weg gebracht. Dies gilt insbesondere für das Investitionspaket, das die Kommission im November vorgeschlagen hat, und mit dem mindestens 315 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen über die nächsten drei Jahre freigesetzt werden sollen. Zur Umsetzung des Investitionsplans hat die Kommission am 13. Januar ihren Vorschlag für einen Europäischen Fonds für Strategische Investitionen unterbreitet. Wichtig ist dabei, dass der EFSI über einen Investitionsausschuss verfügen wird, der sich aus unabhängigen Experten zusammensetzt und die zu fördernden Projekte unabhängig von politischer Einflussnahme prüft und genehmigt.

Daneben hat die Kommission auch ihr Herbstpaket zur wirtschaftspolitischen Koordinierung angenommen, welches die Grundlage für die Koordination und Lenkung der Wirtschaftspolitik in Europa im Rahmen des Europäischen Semesters ist. Diese Koordinierung muss in einer echten und verstärkten Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten geschehen. Zudem hat die Kommission auch Leitlinien aufgestellt, wie man das Beste aus der Flexibilität im Rahmen der bestehenden Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts machen kann. Diese führen zu keiner Änderung der Vorschriften des Pakts, erklären aber ausführlich, wie sie angewendet werden müssen, um Wirtschaftslage, Investitionen und Strukturreformen in Einklang miteinander zu bringen. Allerdings kann die Flexibilität nicht ohne gleichzeitige Bereitschaft zu Reformen gewährt werden. Denn unabdingbares Ziel ist es, zugleich Investitionen, Strukturreformen und verantwortungsvolle Finanzpolitik zu fördern.

Eine weitere wichtige Priorität der Kommission ist es, das Handeln der Union demokratischer und transparenter zu gestalten. Schon im ersten Monat ihres Mandats, im November letzten Jahres, hat die Kommission daher weitere Maßnahmen zur Förderung der Transparenz beschlossen. Insbesondere beschloss die Kommission, zukünftig alle Besprechungen zwischen Mitgliedern der Kommission beziehungsweise hohen Beamten und privaten Interessenvertretern zu veröffentlichen. Das Transparenzregister erlaubt darüber hinaus genau nachzuvollziehen, wen und welche Anliegen solche Interessenvertreter vertreten.

Allerdings ist es wichtig, dass nicht nur die Kommission, sondern auch Rat und Parlament sich den neuen Anforderungen an Transparenz und Offenheit stellen. Deswegen werde ich, im Einklang mit unserem Arbeitsprogramm, einen Vorschlag für ein Interinstitutionelles Abkommen aller drei Institutionen über ein neues, verbindliches Transparenzregister unterbreiten.

Eine weitere wesentliche Priorität für die Kommission, und insbesondere für mich, ist unsere Arbeit am Thema Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen ist mir ein Kernanliegen. Zu häufig muss ich feststellen, dass kleine und mittlere Unternehmen heute den Binnenmarkt nicht mehr als Chance sehen, sondern vielmehr als Quelle von unnötigen regulatorischen Belastungen.

Die Herausforderungen für die Institutionen ist es daher sicherzustellen, dass die Union, wenn sie regulatorisch tätig wird, dies zum einen nur dann tut, wenn der Nutzen die Kosten der Regulierung überwiegt. Zum anderen geht es darum, Regulierung so zu gestalten, dass sie klar und effizient ist und keine unverhältnismäßigen Lasten verursacht.

Dabei geht es in keiner Weise darum, unsere Standards in Bereichen wie Umwelt, Soziales, Gesundheit oder Sicherheit abzusenken. Es geht vielmehr darum, diese legitimen Ziele auf möglichst intelligente und effiziente Weise zu erreichen.

Um dies zu erreichen, werde ich im kommenden Frühjahr Vorschläge zur weiteren Verbesserung unserer regulatorischen Praxis machen.

Insbesondere ist es mir ein Anliegen, unser System der Folgenabschätzung so zu verbessern, dass es das Beste der Welt ist. Zu diesem Zweck wird die Kommission ihren Ausschuss für Folgenabschätzung stärken. Das neue Regulatorische Kontrollgremium wird zukünftig mit Experten besetzt, die sich dieser Aufgabe in Vollzeit widmen, und durch externe Experten verstärkt werden. Weitere Verbesserungen strebe ich auch bei den öffentlichen Anhörungen der beteiligten Kreise im Rahmen der Vorbereitung von Rechtsakten an.

Wichtig ist, dass wir uns dem Thema der besseren Rechtsetzung nicht nur bei neuen Vorschlägen annehmen. Wir werden im Rahmen des REFIT-Programmes das bestehende Unionsrecht daraufhin überprüfen, wo Potentiale für Einsparungen und Vereinfachungen bestehen. Ich beabsichtige, auch in diesem Jahr wieder ein ambitioniertes REFIT-Paket zu präsentieren und somit Bürokratie abzubauen.

Nicht vergessen dürfen wir allerdings, dass bessere Rechtsetzung keine Aufgabe allein der Kommission ist. Vielmehr ist es eine gemeinsame Aufgabe aller am Gesetzgebungsprozess beteiligten Institutionen, also auch von Parlament und Rat. Und dies bedeutet für mich, dass auch Parlament und Rat, wenn sie die Vorschläge von Parlament und Rat wesentlich verändern, diese Änderungen einer Folgenabschätzung unterwerfen sollten.

Aus diesem Grund werde ich in diesem Frühjahr Rat und Parlament auch einen Vorschlag für ein neues Interinstitutionelles Abkommen zur besseren Rechtssetzung vorschlagen. Dieses Abkommen sollte uns helfen, in Zukunft den Gesetzgebungsprozess effizienter zu gestalten und unnötige Reibungspunkte - etwa bei delegierten und Durchführungsrechtsakten - zu vermeiden.

Lassen Sie mich damit zu einem anderen Thema kommen, das für Wachstum und Beschäftigung ebenfalls wichtig ist, in Deutschland gegenwärtig aber eher in einem negativen Licht gesehen wird: das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Der Abschluss eines ausgewogenen Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten bleibt eine Priorität der Kommission. Wir sind der Überzeugung, dass der Abbau von Handelsschranken im transatlantischen Verhältnis erhebliche Wachstumspotentiale in sich birgt. Es steht für mich außer Frage, dass TTIP für eine exportorientierte Nation wie Deutschland weit mehr Chancen als Risiken bietet.

Das heißt allerdings nicht, dass wir nicht auch die Bedenken sehen und verstehen. Viele dieser Bedenken beruhen jedoch auf Missverständnissen. Dies hat die Kommission im November veranlasst, die Verhandlungen von TTIP mit einem Höchstmaß an Transparenz zu führen, und insbesondere viele der Verhandlungsdokumente zu veröffentlichen.

Insbesondere geht es bei TTIP nicht darum, Sozial- oder Umweltstandards abzusenken. Das Recht der Parteien zur Verfolgung ihrer legitimen regulatorischen Ziele darf durch TTIP nicht berührt werden.

Was die öffentliche Debatte um die Streitbeilegung beim Investitionsschutz (ISDS) angeht, so wird diese ebenfalls nicht immer mit der notwendigen Objektivität geführt. Es geht nicht darum, Investoren Schutz vor Regulierung zu gewähren, sondern lediglich um genau definierte Grundsätze zum berechtigten Schutz gemachter Investitionen. Es sollte auch klar sein, das ISDS kein Novum ist. Es findet sich bereits in einer Vielzahl von bilateralen Abkommen, die auch Deutschland unterzeichnet hat, und die einen weit geringeren Standard haben als den von uns angestrebten.

Die Kommission hat zu ISDS eine breite öffentliche Konsultation durchgeführt und ausgewertet. Auf dieser Grundlage erwägt die Kommission, eine Reihe von weiteren Verbesserungen an ISDS, etwa was das Verhältnis zur nationalen Gerichtsbarkeit oder die Einrichtung einer Berufungsinstanz angeht. Es ist klar, dass es ISDS in TTIP nur dann geben wird, wenn die Bedingungen im Verhandlungsmandat der Kommission voll erfüllt sind, und hierauf werde ich persönlich achten.

Insgesamt möchte ich daher nochmals betonen: wir wollen nicht TTIP um jeden Preis, sondern wir wollen ein ausgewogenes TTIP. Ein solches Abkommen ist es wert, sich dafür einzusetzen, und ich fordere sie daher herzlich auf, die Kommission hierbei in der öffentlichen Debatte zu unterstützen.

Zum Schluss möchte ich noch auf ein Thema zu sprechen kommen, dass vielleicht erst auf den zweiten Blick mit Wachstum und Beschäftigung zu tun hat, dass mir aber ebenso am Herzen liegt: die Wahrung der inneren Sicherheit der Union und der Kampf gegen den Terrorismus.

Die Anschläge von Paris und von Kopenhagen haben uns erneut vor Augen geführt, welchen Risiken und Bedrohungen unsere Gesellschaften gegenwärtig ausgesetzt sind. Ich bin stolz darauf, wie die Menschen in Paris und Kopenhagen hierauf reagiert haben, nämlich mit Würde und Besonnenheit.

Ich glaube, dass dies auch das Leitmotto für unsere Reaktion auf politischer Ebene sein muss. Wir brauchen keinen Aktionismus, sondern müssen genau abwägen, welche zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind. Die Verantwortlichkeit für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit liegt dabei in erster Linie bei den Mitgliedstaaten, aber die Union kann dazu beitragen, um die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Dabei liegt der Bedarf jedoch oftmals nicht bei neuen gesetzgeberischen Maßnahmen, sondern vielmehr bei der Umsetzung und Anwendung des bestehenden Rechts.

Eine Maßnahme, bei der ich davon überzeugt bin, dass sie einen konkreten Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus leisten kann, ist jedoch die Fluggastdatenspeicherung (PNR). Ich glaube, es ist weder im Interesse der Sicherheit noch des Binnenmarkts wenn die Mitgliedstaaten jeweils für sich ihre eigenen Systeme betreiben.

Insofern begrüße ich es sehr, dass das Europäische Parlament am 12. Februar beschlossen hat, die Arbeiten an der Fluggastdatenspeicherungs-Richtlinie wieder aufzunehmen und bis Ende des Jahres abzuschließen. Ich stimme dem Parlament auch zu, dass mit der Annahme der Richtlinie auch die Verabschiedung des Reformpakets zum Datenschutz einhergehen muss, denn wir brauchen beides: Maßnahmen zur effektiven Verbrechensbekämpfung, aber auch Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte und der Privatsphäre.

Sicherheit ist letztlich nicht nur ein Grundrecht; sie ist auch die Grundlage für Wachstum und Wohlstand. Die Wahrung der Sicherheit ist daher eine weitere der Prioritäten der Kommission. Die Kommission wird Parlament und Rat noch in diesem Frühjahr eine umfassende Sicherheitsagenda präsentieren, die auch den Schutz der Europäischen Wirtschaft zum Gegenstand haben wird.

Ebenso wichtig wie Sicherheit sind jedoch auch Toleranz und Offenheit in unseren Gesellschaften. Antisemitismus und andere Formen von Intoleranz in unserer Gesellschaft sind ein Zeichen der Krise, in der wir uns noch immer befinden, wirtschaftlich wie politisch. Und in einer Gesellschaft, in der sich Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens nicht sicher fühlen, können auch Wohlstand und Wachstum nicht gedeihen.

Lassen Sie uns diese Herausforderung, vor der wir alle stehen, annehmen: Bringen wir Europa zurück auf den Weg von Wachstum und Stabilität, im Interesse der Bürger. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies gemeinsam gelingen wird.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

SPEECH/15/4500

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